Ich lese zur Zeit die Autobiographie von Hansjörg Schneider „Kind der Aare“. Das Buch hat mich zum einen angezogen, weil ich ihn als Autor des Hunkeler schätze, zum anderen, weil auch ich ein Aarekind bin. Aare und Suhre waren von meiner Kindheit an nah und wichtig. Später kamen der Rhein und der Inn dazu. Als Erwachsene wohnte ich während vieler Jahre 50 m von der Aare entfernt. Ein grosser Teil meines Lebens spielte sich damals an diesem Fluss ab, der mir Trost und Heimat war. In der Suhre bin ich zweimal gelandet. Einmal, mit sechs, kam ich selber raus, mit acht konnte eine Spielkameradin mich gerade noch rausziehen. (NB. hatte ich mir ein Jahr zuvor, als 7jährige, verzweifelt überlegt, wie ich der Gewalt entkommen könnte. Der Vergewaltigeronkel wohnte zwar nicht mehr bei uns, doch die Mutter verprügelte mich immer noch mehrmals die Woche. Ich weiss noch, wie ich meine Stirn an die Glasscheibe der Balkontür in meinem Kinderzimmer drückte und mir die Suhre als Ausweg in den Sinn kam. Das kleine Mädchen hat es nicht getan. Und manchmal frage ich mich, ob zum Glück oder leider.)
Im Abschnitt, in dem Hansjörg Schneider von der Literatur seiner Jugend erzählt, sehe ich mich in Erinnerungsbildern erneut in meine Kindheit versetzt. Was für ein Glück hatte ich doch, als meine Eltern im Sommer 1967 mit mir nach Sent im Unterengadin fuhren auf der Suche nach einem Ort, in dem wir die nächsten Winterferien verbringen konnten. Schneesicher sollte das Gebiet sein, nachdem Les Rasses im Februar sehr wenig Schnee zu verzeichnen gehabt hatte.
Im Jahr zuvor hatten wir im Gegenteil dazu im Lötschental einen Lawinenwinter erlebt. Die paar Kilometer Strasse von Wiler bis Goppenstein konnten jeweils aufs Wochenende hin wieder freigeschaufelt werden, so dass Leute aus- bzw. einreisen konnten. Unter der Woche allerdings waren wir abgeschnitten. Mein Vater hatte sich die Post und die Zeitung nachsenden lassen, die er dann allerdings erst am Wochenende erhielt. Ich erinnere mich an ein Bild im Aargauer Tagblatt, auf dem Männer zu sehen waren, die mit prall gefüllten Chratte über die Lawinen stiegen um frische Lebensmittel – ich nehme an v.a. Obst und Gemüse – ins Tal rein zu bringen.
Wir selbst hatten nach Ankunft in Goppenstein und einem Telefonat mit dem Vermieter der Ferienwohnung, Herrn Tannast, die grösseren Gepäckstücke im Bahnhof deponiert und waren zu Fuss losgegangen. Wir mussten insgesamt sieben Lawinen überqueren, gegen Wiler hin eine grösser und länger als die andere, die letzte ca. 150 m lang und gute acht Meter hoch. Ich sehe Herrn Tannast noch neben dem Jeep stehen. Er war von Wiler aus losgefahren, um uns nach der letzten Lawine abzuholen. Ich erinnere mich an seine besorgten Blicke hinauf zu den Bergen. Mein Vater erzählte später, meine Mutter sei wie eine Berggeiss vorausgeeilt. Für mich war es ein Abenteuer und, da ich fit war, überhaupt keine Sache. Viel später, als Erwachsene, wurde mir klar, was für ein Wagnis meine Eltern da eingegangen waren. Aber damals machte mensch noch solche Sachen. (Ein andermal überquerten wir zusammen mit anderen Erwachsenen eine Eisenbahnbrücke, als ein Zug vorbeibrauste. Das Dröhnen habe ich heute noch in den Ohren.)
Nachdem ich während der ersten Woche im Lötschental mitbekommen hatte, dass Leute mit dem Helikopter ausgeflogen worden waren, hoffte ich natürlich in der zweiten Woche auf so viele Lawinen, dass ich das auch erleben würde. Was leider nicht der Fall war. Es kamen zwar anfangs unserer zweiten Ferienwoche wieder viele Lawinen runter, doch bis zu unserer Abreise war die Strasse für das Postauto wieder frei.
Jedenfalls stellte meine Mutter in Sent fest, dass ihr das doch zuviel sei. Sie schreckte zurück vor der schieren Grösse des Unterengadins. „Stell dir vor“, meinte sie zu meinem Vater, „wenn wir von hier nicht ausreisen können, wenn die Pässe geschlossen sind. Das können wir nicht machen.“
So fuhren wir zurück. Nach einem Aufenthalt in Susch im Hotel Rezia, heute Usteria Susasca, ging es über den Albula in die Lenzerheide, wo wir in einem Garnihotel übernachteten.
Am nächsten Tag erkundigte sich mein Vater bei der Gemeindeverwaltung nach Ferienwohnungen. So fanden wir zu Herrn Koch, einem pensionierten Churer Lehrer, dessen
Haus wunderschön über dem Heidsee gelegen ist. Herr Koch bewahrte zu meinem grossen Glück die deutschsprachige klassische Literatur in der Ferienwohnung auf. In den Winterferien 67 und 68 las ich
mich durch die deutschen Klassiker (keine einzige Schriftstellerin).
Später nochmals so ein Glücksfall. Wir waren die ersten Kinder, die die ganzen vier Jahre in der neu gegründeten Bezirksschule in unserem Dorf verbringen durften. Die meisten unserer Lehrer*innen waren jung. Zum Teil hatten sie vermutlich auch wenig Lehrerfahrung und mussten und durften experimentieren. Dafür waren die meisten offen für Diskussionen und andere Weltanschauungen. Ich denke da gerade an Herrn B., mit seinen „Fieberkurven“, den wir in der 2. Bez. als Franzlehrer bekamen. (Dazu das nächste Mal mehr).
Auch wenn ich mich an unsere Französischlehrerin des ersten Jahres, Frau A. F-S. v.a. als parteiische Lehrerin erinnere, die diejenigen Kinder bevorzugte, die nach der 1. Sek. in die 1. Bez. gewechselt hatten und dank des Vorjahres schon ein bisschen Französisch konnten, so hat sie mir doch u.a. neuere französische Lyrik nahe gebracht. «Il a mis le café / Dans la tasse / Il a mis le lait / Dans la tasse de café …» aus «Déjeuner du matin» von Jacques Prévert, einem bedrückenden Beispiel einer traurigen Ehe. Diese Beschreibung des Nicht-beachtet-werden, des Nicht-existent-sein-sollens, das ich schon als Kind so gut selber kannte, hat mich mit 12 tief getroffen. Ich konnte das ganze Elend mitfühlen. Das Gedicht endet mit: « Et moi j'ai pris / Ma tête dans ma main / Et j'ai pleuré.»
Ebenfalls erinnere ich mich noch an Peter Bichsels „Ein Tisch ist ein Tisch.“, was mich in den Winterferien in Valbella dazu animierte, mir einen Tisch vorzustellen und lange „Tisch, Tisch, Tisch, Tisch Tisch Tisch“ zu wiederholen, bis ich nicht mehr wusste, wie dieses Möbelstück aussah.
Unser Zeichenlehrer, H. S. brachte uns 1971 dieses Buch mit Kurzprosa und Lyrik von zeitgenössischen Schweizer Schriftstellern – immerhin neben 48 Männern zwei Frauen. Erika Burkart und Gertrud Wilker. Ich lese heute noch darin.
Wer uns zu Beginn in Deutsch unterrichtete, weiss ich nicht mehr. War es von Anfang die St.? Jedenfalls erinnere ich mich neben dem Wilhelm Tell und diversen Gedichten mit unzähligen Strophen, die wir auswendig zu lernen hatten, spontan an Borcherts „Draussen vor der Tür“. Ausserdem an eine Kurzgeschichte über einen Zug, der in einem Tunnel fährt und fährt und fährt und offenbar nicht mehr rauskommt, sondern einem Abgrund entgegenrast (Dürrenmatts „Der Tunnel“) sowie an eine Erzählung über Bergmänner, die verschüttet wurden. Möglicherweise war der Titel: „900 Meter tiefe Nacht.“ oder ähnlich.
Warum meine Mutter mich in den Sommerferien 1963 auf dem Bauernhof der Schwiegereltern ihres Lieblingsbruders, des Vergewaltigeronkels, zwang, tagsüber längere Zeit drinnen zu bleiben und „Pocomoto auf der Pferdefarm“ zu lesen statt mit den Kindern draussen rum zu rennen, weiss ich nicht. Vielleicht war das ein Versuch, mich endlich vor dem Vergewaltiger zu schützen. Das würde ich mir jedenfalls wünschen. Wahrscheinlicher ist, dass sie die Umsetzung ihrer sehr klaren Vorstellungen, was ich als Mädchen tun oder lassen sollte, erzwingen wollte. Wie auch immer hat sie damit vermutlich den Grundstein für mein später ausdauerndes Lesen gelegt.