Vision für eine verletzte Frau
Eine verhutzelte Greisin stand vor ihr, neigte sich ihr leicht zu und betrachtete sie voller freundlicher Anteilnahme. Schaute sie genauer hin, vermeinte sie ab und zu das schelmische Antlitz einer jungen Frau zwischen den Runzeln hervorblitzen zu sehen. Die Alte bewegte ihre Lippen, und obwohl kein Laut zu vernehmen war, verstand Myrtha sie doch.
„Ich weiss, Liebes, man hat dich verraten, verkauft, vergewaltigt, dich gedemütigt, dir dein Menschsein geraubt. Du und ich, wir können es nicht ungeschehen machen. Doch schliesse nun die Augen und sieh, wie ich dich in der kommenden Zeit sehe.“
Myrtha fühlte sich von einer Woge Mitgefühl umhüllt, als läge sie in der warmen Handschale der alten Frau, über sich das schützende Himmelsgewölbe. So, ja, sie seufzte erleichtert, so konnte sie die Augen schliessen und der Stimme der Alten lauschen, die sich wie ein Netz aus klingenden Fäden in ihr ausbreitete.
„Sieh dich, wie ich dich sehe:
Du gehst aufrecht und federnd mit beschwingtem Gang; deine Hüften ein sanftes Wiegen;
die Arme pendeln locker.
Den Kopf erhoben
blickst du Entgegenkommenden geradewegs in die Augen.
Nicht weil du die Umgebung auf Sicherheit überprüfen willst;
Weil du weisst, du bist ein wertvolles Geschenk für diese Welt.
Dein Sein ein lächelndes Willkommen, wenn Menschen dich als ebenbürtig und gleichwertig anerkennen.
Geht ihr zusammen weiter, dann aus freien Stücken.
Streng blickst du, wenn sie dich reduzieren, wenn welche dich erneut demütigen wollen,
die Brauen, hoch nach oben gebogen,
berühren sich beinah über der Nasenwurzel.
Leichtfüssig wendest du dich von ihnen ab.
Mitfühlend schaust du zu jenen, die dich auf einen Sockel stellen wollen.
Zornig manchmal auch, wenn sie sich selbst kleiner machen, damit du grösser erscheinst.
Du weisst, sie verbieten sich selbst zu wachsen und zu blühen.
Du nimmst es wahr.
Unerbittlich wirst du, wenn sie dir deswegen beim nächsten Schritt ein Bein stellen.
Du verabschiedest dich. Groll lässt du mit der Zeit verwehen.
Hoch erhobenen Hauptes blickst du Entgegenkommenden geradewegs in die Augen.
Biegsam, achtsam und entspannt ziehst du weiter, so wie die Gepardin durch die Steppe streift.
Stolz und frei in deiner Eigenmacht.“