Bild Lisa Hilafu
In meiner Kindheit gab es viele Tabus. Immer lag etwas in der Luft. Vielleicht bedeutet dieses "in der Luft liegen", dass die erwachsenen Verwandten hinter vorgehaltener Hand miteinander sprachen, wir Kinder aber nicht hören, nicht erfahren sollten, worum es ging. Irgendwie war aber immer klar, dass es etwas so schreckliches war, dass sie uns (und sich) davor schützen wollten.
Als ich vor einem gefühlten Jahrhundert, bei meinem Rückzug in die Schweiz, mit den beiden Katzen in meinem Auto, das vollgeladen war mit den restlichen Kisten, dem Putzzeug und einem Reisefutton für die erste Nacht in den Berner Voralpen, über die Autobahn Richtung deutsch-schweizerische Grenze reiste, schoss mir plötzlich wie aus heiterem Himmel der Gedanke durch den Sinn: "Die Familie meiner Mutter! Das waren doch Verdingkinder. Auch die Grosseltern! Da werde ich mich drum kümmern müssen, wenn ich zurück bin." Ich habe keine Ahnung, woher das so plötzlich kam. Für mich war die Verdingung zuvor kein Thema gewesen und in Deutschland hatte ich keine entsprechenden Nachrichten gehört.
In den Wochen danach erfuhr ich beim Hören des Schweizer Radios, dass die Betroffenen Verdingung, illegales Wegsperren von jungen, nicht verheirateten Müttern oder widerständigen Jugendlichen, Zwangssterilisation, Wegnahme der Kinder durch Behörden usw. in die Öffentlichkeit gebracht hatten.
Ein paar Monate nach meiner Rückkehr stellte sich heraus, dass ich schwer erkrankt war. Ich erhielt nach jahrelangen Fehl- und Nichtdiagnosen kurz vor dem Koma die Diagnose Hashimoto. Die nächsten Jahre hatte ich genug damit zu tun mich aufzupäppeln und zu schützen.
2012 starb meine Mutter. Mein Gotte (Patentante) erzählte mir beim Mahl nach der Beisetzung, auch meine Mutter sei verdingt worden. Ich fiel aus allen Wolken. War ich doch bis anhin davon ausgegangen, dass sie zusammen mit meiner Gotte bei meinen Grosseltern hatte aufwachsen können.
Seither ist vieles klarer geworden. Bei Gesprächen mit Betroffenen aus der Erstgeneration, beim Lesen ihrer Lebensgeschichten, bei der Reflektion eigener Verhaltensweisen und der zuvor unverständlichen der Mutter. Und last but not least während der Lektüre über transgenerationale Weitergabe von Traumata.